Exzessive Kriminalität? Über nicht belastbare Belastungsindizes

Afghanistan ist nach der neuerlichen Machtübernahme durch die Taliban in aller Munde. Ungeachtet der katastrophalen Situation sprechen sich Regierungsvertreter gegen eine weiter Aufnahme von Schutzsuchenden nach Afghanistan bzw. sogar für Abschiebungen von Afghan᛫innen aus (trotz eines EGMR-Urteils). Die Diskussion ist unter anderem deshalb hoch emotionalisiert, weil Afghan᛫innen von Teilen der Bevölkerung als besonders bedrohlich empfunden werden. Insbesondere wird immer wieder (z.B. hier und hier) über eine vermeintlich exzessive Kriminalitätsrate in der afghanischen Bevölkerungsgruppe berichtet. Personen mit afghanischer Staatsbürgerschaft begingen angeblich zwölfmal häufiger Sexualverbrechen als Einheimische. Diese Zahl wird „Belastungsindex“ genannt und entspricht von der Größenordnung her ungefähr dem sehr ausgeprägten Unterschied in der Sterblichkeit bei Grippe und COVID-19. Sind Österreicher᛫innen und Afghan᛫innen bezüglich Kriminalität wirklich so verschieden? Betrachten wir zuerst ein emotional weniger aufgeladenes Beispielproblem, bevor wir näher beleuchten, ob solch hohe Belastungsindizes tatsächlich belastbare Zahlen sind.

Die Huber-Bäuerin hat zwei Kühe und einen Stier am Hof. Die Tiere liefern insgesamt 72 Liter (6 Kannen) Milch pro Tag. Die Gruber-Bäuerin hat 5 Kühe, 5 Stiere, und 50 Hühner. Der gesamte Milchertrag bei der Gruber-Bäuerin beträgt 120 Liter (10 Kannen) pro Tag. Der Milchertragindex (Gesamtertrag bezogen auf die Anzahl der Tiere) beträgt bei der Huber-Bäuerin 72/(2+1)=24 Liter/Tier/Tag und bei der Gruber-Bäuerin 120/(5+5+50)=2 Liter/Tier/Tag. Der Index ist also bei der Huber-Bäuerin zwölfmal größer als bei der Gruber-Bäuerin. Andererseits beträgt der Milchertrag pro Kuh bei der Huber-Bäuerin 36 Liter/Kuh/Tag und bei der Gruber-Bäuerin 24 Liter/Kuh/Tag, d.h., wenn man die tatsächlich milchliefernden Tiere als Bezugsgröße nimmt, reduziert sich der Unterschied bei der Milchleistung auf einen Faktor von 36/24=1.5 (also 50% höherer Ertrag bei der Huber-Bäuerin). Der Faktor 12 beim Milchertragsindex ergibt sich hauptsächlich aus der Tatsache, dass die meisten Tiere (ca. 67%) der Huber-Bäuerin Kühe sind (also Tiere, die tatsächlich Milch geben), während der Großteil (ca. 92%) der Tiere der Gruber-Bäuerin gar keine Milch geben können.

Das Beispiel zeigt, dass bei einem statistischen Vergleich die Bezugsgröße extrem wichtig ist. Den Milchertrag auf die Anzahl der Tiere zu beziehen, bedeutet einen sprichwörtlichen Vergleich von Äpfel und Birnen, der die Struktur des Betriebs außer Betracht lässt. Wenn man nun weiters den statistischen Zusammenhang zwischen dem Namen der Bäuerin und dem Milchertrag analysieren würde, ergäbe sich eine starke Korrelation zwischen dem Namen „Huber“ und einem hohen Milchertrag. Dennoch würde wohl niemand ernsthaft behaupten, dass der Name der Bäuerin ursächlich für einen höheren Ertrag ist, und keine Bäuerin würde ihren Namen ändern, um so den Ertrag zu verbessern. Stattdessen würde man sich auf die Suche nach anderen kausalen Faktoren machen (vielleicht hat die Huber-Bäuerin eine andere Rinderrasse oder saftigere Weiden), anhand derer auch die Gruber-Bäuerin die Milchleistung auf ihrem Hof verbessern könnte.

Zurück von Milcherträgen zur Kriminalitätsstatistik. Im Zusammenhang mit dem „Fall Leonie“ wurde in manchen Medien aus dem Bericht „Delinquenz afghanischer StaatsbürgerInnen in Österreich“ des Institut für Höhere Studien (IHS) zitiert. Der Falter (Nr. 27/21, Seite 14) schrieb z.B.:

Laut dem Institut für Höhere Studien sei die allgemeine Kriminalitätsbelastung von Afghanen viermal so hoch wie in der durchschnittlichen Wohnbevölkerung, sie begehen neunmal so viele Drogendelikte und zwölfmal so viele Sexualverbrechen.“ 

Derartige Aussagen sind in mehrerlei Hinsicht problematisch. Zum einen könnte beim letzten Nebensatz leicht der falsche Eindruck entstehen, dass die Anzahl der von Afghanen begangenen Sexualverbrechen in absoluten Zahlen zwölfmal so hoch wie bei Österreichern sei. Zum anderen bezieht sich die Aussage auf den Anzeigenbelastungsindex, also die Anzahl der Anzeigen (nicht die Anzahl der Verurteilungen oder der tatsächlichen Delikte) pro afghanischem Staatsbürger relativ zur Gesamtbevölkerung, und aus dem selben Bericht geht hervor, dass Nicht-Österreicher᛫innen tendenziell häufiger angezeigt werden als Österreicher᛫innen. Weiters ist der Faktor 12 nur für das Jahr 2016 gültig, während in den meisten anderen Jahren der Index im Bereich von 7 bis 8 liegt. Aber selbst wenn man die Aussage auf „Afghanen wurden im Jahr 2016 bezogen auf den Bevölkerungsanteil zwölfmal häufiger wegen Sexualverbrechen angezeigt“ korrigiert, bleibt immer noch ein ähnliches Problem bestehen wie beim Milchertrag im obigen Landwirtschafts-Beispiel: Sexualverbrechen werden meist von (häufig jungen) Männern begangen, welche unter afghanischen Staatsbürgern stark überrepräsentiert sind (so wie die Kühe bei der Huber-Bäuerin).

Die Daten stammen von der Statistik Austria (über STATcube abgerufen).

Frauen und ältere Menschen sind in der afghanischen Bevölkerung demgegenüber stark unterrepräsentiert. Männer bis zum Alter von 45 Jahren machten 2016 mehr als zwei Drittel (67%) der afghanischen Bevölkerung aber nur ein Viertel (25%) der österreichischen Bevölkerung aus. Bei systematisch geplanten Studien wird von vornherein darauf geachtet, dass Vergleichsgruppen möglichst identisch zusammengesetzt sind und sich nur in dem einen Merkmal unterscheiden, welches man untersuchen möchte. Wenn man die Wirksamkeit eines neuen Medikaments bei einer bestimmten Gruppe von Patient᛫innen untersuchen möchte, würde niemand auf die Idee kommen, einen Vergleich mit der allgemeinen Bevölkerung zu ziehen, wo die meisten Personen gar nicht an der zugrundeliegenden Krankheit leiden. Der Belastungsindex im IHS-Bericht hingegen vergleicht die Relevanz des Merkmals „Staatsbürgerschaft“ für die Kriminalität in zwei Bevölkerungsgruppen, die völlig unterschiedlich zusammengesetzt sind. Dementsprechend spiegelt der zitierte Belastungsindex von 12 nicht notwendigerweise nur eine höhere Kriminalität wieder, sondern auch die stark unterschiedliche Struktur der afghanischen und österreichischen Bevölkerung (vgl. die Tiere der Gruber- und der Huber-Bäuerin). Um die wahre Größenordnung des Problems zu bestimmen, müsste man für einen Vergleich einen Teil der österreichischen Bevölkerung zufällig auswählen, der genauso zusammengesetzt ist wie die afghanische. Leider fehlen mir dafür die detaillierten Daten, aber anhand der Alterspyramide vermute ich, dass der resultierende Index ca. um einen Faktor 2 bis 3 kleiner sein würde.

Aus dem IHS-Bericht ergibt sich über die Jahre 2010-2018 ein gemittelter Index von ungefähr 8. Die Korrektur um die Bevölkerungsstruktur führt dann zu einem Wert von ca. 3. Wenn man auch noch berücksichtigt, dass Afghanen überproportional häufig angezeigt werden, kommt man zum Schluss, dass das Risiko für ein Sexualverbrechen bei jungen Afghanen wohl in etwa zweimal größer ist als bei jungen Österreichern (die Zahlen hier sind überschlagsmäßig geschätzt um die prinzipiellen Probleme des Vergleichs zu veranschaulichen). Nun ist ein doppelt so hohes Risiko immer noch schlimm genug, aber es entspricht einem Szenario, dem man mit geeigneten Integrations-, Aufklärungs-, und Bildungsmaßnahmen durchaus entgegentreten kann, während man bei einem zwölffach erhöhten Risiko mit gutem Grund sehr viel drastischere Maßnahmen ergreifen müsste.

Abschließend sei angemerkt, dass die Analyse von statistischen Abhängigkeiten zwischen Nationalität und Kriminalität an dem selben Fehler krankt, wie jene zwischen Namen und Milchertrag in unserem obigen Beispiel. Die Nationalität ist nicht ursächlich für höhere Kriminalität, sonst könnte man durch Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft das Problem einfach lösen. Stattdessen gibt es andere Faktoren, die Sexualverbrechen begünstigen (Kriegs- und Gewalterfahrungen, fundamentalistisches und patriarchal-misogynes Umfeld, mangelnde Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, etc.). Österreicher, bei denen diese Faktoren vorhanden sind, neigen eher zu Sexualverbrechen als Afghanen, bei denen diese Faktoren nicht vorhanden sind. Entscheidend für die Delinquenz ist also nicht die Herkunft, sondern die Geschichte einer Person. Statistiker würden in solchen Situationen z.B. eine partielle Korrelation berechnen, welche vermutlich zeigen würde, dass unter Berücksichtigung der relevanten Risikofaktoren keine nennenswerte Abhängigkeit zwischen Nationalität und Delinquenz besteht. Bei dem statistischen Zusammenhang zwischen Nationalität und Delinquenz ohne Einbeziehung der anderen Faktoren handelt es sich somit um eine Scheinkorrelation.

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